älter werden
von Axel Niebergall
Gerade als Sabine Hennenlotter die Einkaufstüten in den Kofferraum ihres rosafarbenen Geländewagens ablegte, entdeckte sie ihr Herz für die Fassadenkletterei. Davon war während des vorangegangenen Einkaufsbummels noch nichts zu spüren gewesen und dementsprechend überrascht musterte sie das einladende Mauerwerk des Modegeschäftes, in dem sie gerade einen Bikini und ein Strandtuch gekauft hatte. Sie fühlte sich magisch von den breiten Fugen und dem Sims oberhalb des sechsten Geschosses angezogen.
Im gleichen Augenblick, etwa drei Boutiquen und mehrere Stockwerke von Sabine Hennenlotter entfernt, erinnerte sich Marlies Uhlworm an den Frühstückstisch, den sie etwa ein Jahr nach dem Tode ihres Ehemannes in den Sperrmüll gegeben hatte. Sie war neunundsiebzig Jahre alt und im kommenden Monat jährte sich dieses Ereignis zum sechsten Male und es war ihr nicht leicht gefallen, sich davon zu trennen. Marlies Uhlworm lebte allein in einer Vierzimmerwohnung, früher hatte es im Haus noch andere Familien wie ihre gegeben (der einmal ein Ehemann und zwei Söhne angehört hatten), Familien, die sich langsam ausdünnten, wenn die Kinder aus dem Haus gingen. Kurz darauf verschwanden meist auch die Eltern und wurden durch karrierebewusste Einzelbewohner ersetzt, die mit Marlies Uhlworm keinen Umgang pflegten. Diese also erinnerte sich an den Frühstückstisch, während sie ihre Blumen goss, und vor allem an die ausgefeilten Sexspiele, die sie mit ihrem Mann noch bis zuletzt auf ihm getrieben hatte.
Sabine Hennenlotter fand in der Hohenzollernstrasse zu ihrer Freude alles, was sie für ihr neues Hobby benötigte. Die hautengen Leggings besaß sie schon, die musste sie also nicht mehr einkaufen, aber da fehlten noch die richtigen Schuhe und Kreide für die Hände. In einer Nachmittagssendung hatte sie einmal einen beneidenswert gut gebauten Extremsportler gesehen, der nur mit ordentlichem Schuhwerk, einer Fahrradhose und einem Beutel voller Kreide die Eiger-Nordwand erklommen haben wollte. Das Unterfangen war nach etwa einem Fünftel der Wand mit einem Absturz geendet, der Sportler seitdem querschnittsgelähmt und impotent, worum es in der Sendung auch eigentlich gegangen war. Aber Sabine hatte sich voller Bewunderung die gesamte Ausstattung gemerkt. Schuhe fand sie sofort, Kreide bekam sie bei Eduscho, die gerade in ihrer Non-Food-Ecke Freeclimbing-Ausrüstung führten. Mit den neuen Schuhen und dem Kreidebeutel an der Hüfte fühlte sie sich frei, es ihrem ewig nörgeligen Dauerverlobtem mal so richtig zu zeigen.
Marlies Uhlworm stellte die Gießkanne ab und warf einen leidenden Blick in Richtung Küche. Sie rief sich den Duft frischgebackener Croissants mit Honig in Erinnerung, die neben dem Frühstückstisch einmal eine sehr bedeutende Rolle in ihrem Liebesleben gespielt hatte, eine krümelige und leicht klebrige Sauerei, die sich aber ausgezahlt hatte. Jedenfalls konnte sie sich gut an den multiplen Orgasmus erinnern, den sie mit einer Plastiktüte über dem Kopf an ihrem neunundsechzigsten Geburtstag erlebt hatte. Nur der Kaffee war etwas heiß gewesen.
Mit neugewonnenem Kennerblick studierte Sabine Hennenlotter die Fassaden in der Umgebung. Ihre Handflächen waren angenehm trocken, sie staubten nur etwas. Die vorhin noch sehr inspirierende und attraktive Fassade neben dem Modegeschäft erschien ihr nun aber nicht mehr ausreichend. Zu wenig Platz, dachte sie, aber gewiss nicht, weil ihre Hüften zuletzt in die Breite gegangen waren, das empfand nur ihr Dauerverlobter so. Somit sah es allerdings auch trübe aus: Überall nur Schaufenster, die nicht genügend Halt boten (außer mit Saugnäpfen vielleicht). Sie überlegte, ob sie zur Universität fahren sollte, das war nicht weit, aber dann fiel ihr ein, dass die Fugen dort ebenso wie an der Residenz nur aufgemalt waren. Wo sollte man noch ordentliche Fassaden finden, in so einer Stadt? Sabine Hennenlotter schlenderte langsam den Bürgersteig hinab.
Unterdessen sah sich Marlies Uhlworm mit der Gegenwart konfrontiert. Da sie Witwe war, war es zwecklos, sich in einem der üblichen Swingerclubs umzusehen, die waren nur für Paare und ihre Mitgliedschaft war sicher auch schon längst abgelaufen. So vieles hatte sie mit dem Tod ihres Mannes aufgeben müssen. Sie nahm die Gießkanne auf, seufzte dabei, und fuhr fort, die Blumen zu gießen.
Na endlich, dachte Sabine Hennenlotter, drei Boutiquen weiter, eine Fassade, die sich erklimmen ließ. Das einzige Haus weit und breit, das noch nicht zu Tode saniert und mit einem Geschäft versehen war. Ganz hübsche Balkone gab es auch, oben einen Giebel mit einem Sims, von dem aus sie gewiss den schönen Ausblick genießen konnte. Sie klappte in die Hände (für ein Klatschen waren sie zu trocken), wartete, bis sich die Kreidewolke gelegt hatte, und schob ihre Finger in eine Ritze gerade über Kopfhöhe.
Marlies Uhlworm hatte die letzte Blume in der Wohnung gegossen, blieb nur noch der Balkon. Auf dem hatte sie auch schöne Zeiten erlebt. Dabei war es immer etwas umständlich gewesen, den Frühstückstisch rauszutragen.
Drei Stockwerke weiter unten stellte sich Sabine Hennenlotter als wahres Naturtalent heraus. Das jahrelange Tragen von Einkaufstüten mit schwerem Inhalt und dünnen Tragelaschen hatte ihre Finger gestählt, und die morgendliche Aerobic trug ihres dazu bei. Sie arbeitete ihre manikürten Fingerspitzen in die Fugen vor, fand Halt, schob ihre Füße nach – und in Nullkommanichts hatte sie zwei Stockwerke geschafft. Ohne zu schauen (ihre Höhenangst hatte diese neue Profession leider nicht beseitigen können) wusste sie, dass sich unten eine kleine Zuschauermenge eingefunden hatte. Stehen geblieben war auch der Nacktjogger, der jeden Tag um die gleiche Zeit seine Runden durch Schwabing zog, ohne jedoch dabei die ihm gebührende Beachtung zu finden. „Aber klettert einmal eine übergewichtige Hausfrau in geschmacklosen Leggings eine Wand rauf“, dachte er ärgerlich, „reißen alle gleich die Augen auf.“ Als in die Jahre gekommener Kommunarde fühlte er sich von der Zeit betrogen. Jedenfalls machte Sabine Hennenlotter ihre Sache so lange gut, bis es ihr nass ins Gesicht fiel. Bei Regen zu klettern machte keinen Spaß, sie schaute nach oben und sah blauen Himmel. Die Regentropfen waren unerklärlich, aber vorhanden; also kletterte sie zur Seite und unter einen Balkon, bis das Wetter sich beruhigt hatte.
Marlies Uhlworm ahnte nicht, welche Verwirrung sie gerade verursachte, als sie die Gießkanne großzügig über ihren Balkonkästen ausgoss. Jedes Jahr hatte ihr Ehemann, ein pensionierter Beamter, immer zur gleichen Zeit sorgfältig gepflanzt, große Geranien und Kletterpflanzen, damit niemand den Balkon einsehen konnte. Wenigstens diese Tradition hatte seine Frau fortgesetzt. Marlies leerte die Gießkanne und stellte sie ab (unter ihr stellte Sabine befriedigt fest, dass es weitergehen konnte) und übersah dabei den kleinen Topf mit Kresse, den ihre jüngste Enkelin im Kindergarten gebastelt hatte, ein Clownsgesicht mit grünen Haaren. Sie schlug mit dem Fuß dagegen, warf ihn dabei um und dann versuchte sie, nicht auch noch draufzutreten, um das schöne Geschenk nicht zu zerstören. Dabei verlor sie das Gleichgewicht.
Gerade als Sabine sich unter dem Balkon hervorarbeiten wollte, hörte sie einen leisen Aufschrei über sich (unter ihr hätte sie allerdings für wahrscheinlicher gehalten), und dann sah sie etwas schweres, graues an ihr vorüberfliegen. Sie griff beherzt zu
Zu diesem Zeitpunkt stellte der Nacktjogger fest, dass ihn das Schicksal erneut um die Gelegenheit gebracht hatte, eine Sensation zu bieten: Direkt über ihm baumelte Marlies Uhlworm – von der nur die weiße Spitzenunterwäsche, der Saum ihres Hauskleides und die Latschen zu sehen waren – am ausgestreckten Arm von Sabine Hennenlotter, die sich wiederum, nachdem ihre Füße abgerutscht waren, an die schmiedeeiserne Balustrade klammerte.
Marlies Uhlworm schwang langsam hin und her, trotz des Schrecks hatte sie nicht das Bewusstsein verloren. „Großer Gott“, ächzte sie, höchst erstaunt darüber, einen nackten Mann in weißen Joggingschuhen unter sich zu erblicken. So etwas hätte es zu ihrer Zeit nicht gegeben. Offenbar war es doch gut, dass sie kaum aus dem Haus ging.
Sabine Hennenlotter bemerkte weiter oben zwei Dinge gleichzeitig: Erstens, alte Leute können schwerer sein als Einkaufstüten, und zweitens, dass ihre Arme langsam aus den Gelenken rutschten. „Um Gottes Willen, ziehen Sie sich doch etwas an“, hörte sie unter sich, dann löste sich ihr Griff und Marlies Uhlworm gab der Tiefe nach.
„Na endmph“ entfuhr es dem Nacktjogger und Kommunarden, der damals, als die anderen nackt vor einer Wand posierend berühmt geworden waren, nur mal eben auf dem Klo gewesen war; dann drückten ihn siebzig Kilogramm Lebendgewicht auf einen Schlag nieder.
Mit der freigewordenen Hand ergriff Sabine Hennenlotter die Balustrade und obwohl ihre Arme taub waren, zog sie sich mit letzter Kraft auf den Balkon, wobei sie einen Kressetopf mit Clownsgesicht unter sich zerdrückte.
Wie dem Kressetopf erging es auch dem Nacktjogger. Seine heldenhafte Tat hätte es dann auch beinahe in die Zeitungen geschafft, wäre sie nicht kurz vor Redaktionsschluss von dem noch spektakuläreren Absturz eines Politikers von der Titelseite verdrängt worden.
Marlies Uhlworm starb auf dem Weg ins Krankenhaus, etwas über Frühstückstische murmelnd. Der Notarzt schloss ihre Augen über einem erwartungsvollen Lächeln.
Nachdem Sabine Hennenlotters Muskelkater nachgelassen hatte, trennte sie sich von ihrem Dauerverlobten. Da schöne Vierzimmerwohnungen schwer zu bekommen sind, überzeugte sie Marlies Uhlworms Söhne davon, sie dort zu einer großzügig geringen Miete wohnen zu lassen. Schließlich hatte sie alles daran gesetzt, das Leben ihrer Mutter zu retten.
Sabine Hennenlotter hielt an der Fassadenkletterei weitgehend fest. Ihr jüngster Plan bestand darin, die Eiger-Nordwand ohne Ausrüstung aber mit einem querschnittsgelähmten Extremsportler zu besteigen.
axel niebergall wurde in der lüneburger heide geboren und studierte in münchen alte geschichte. er schreibt seit seinem zwölften lebensjahr und arbeitet neben der promotion an seinem dritten debütroman. älter werden entstand in der schreibwerkstatt manuskriptum und wurde 2003 in meine schöne hässliche geliebte: gedichte und geschichten aus der hohenzollernstrasse veröffentlicht.
Gerade als Sabine Hennenlotter die Einkaufstüten in den Kofferraum ihres rosafarbenen Geländewagens ablegte, entdeckte sie ihr Herz für die Fassadenkletterei. Davon war während des vorangegangenen Einkaufsbummels noch nichts zu spüren gewesen und dementsprechend überrascht musterte sie das einladende Mauerwerk des Modegeschäftes, in dem sie gerade einen Bikini und ein Strandtuch gekauft hatte. Sie fühlte sich magisch von den breiten Fugen und dem Sims oberhalb des sechsten Geschosses angezogen.
Im gleichen Augenblick, etwa drei Boutiquen und mehrere Stockwerke von Sabine Hennenlotter entfernt, erinnerte sich Marlies Uhlworm an den Frühstückstisch, den sie etwa ein Jahr nach dem Tode ihres Ehemannes in den Sperrmüll gegeben hatte. Sie war neunundsiebzig Jahre alt und im kommenden Monat jährte sich dieses Ereignis zum sechsten Male und es war ihr nicht leicht gefallen, sich davon zu trennen. Marlies Uhlworm lebte allein in einer Vierzimmerwohnung, früher hatte es im Haus noch andere Familien wie ihre gegeben (der einmal ein Ehemann und zwei Söhne angehört hatten), Familien, die sich langsam ausdünnten, wenn die Kinder aus dem Haus gingen. Kurz darauf verschwanden meist auch die Eltern und wurden durch karrierebewusste Einzelbewohner ersetzt, die mit Marlies Uhlworm keinen Umgang pflegten. Diese also erinnerte sich an den Frühstückstisch, während sie ihre Blumen goss, und vor allem an die ausgefeilten Sexspiele, die sie mit ihrem Mann noch bis zuletzt auf ihm getrieben hatte.
Sabine Hennenlotter fand in der Hohenzollernstrasse zu ihrer Freude alles, was sie für ihr neues Hobby benötigte. Die hautengen Leggings besaß sie schon, die musste sie also nicht mehr einkaufen, aber da fehlten noch die richtigen Schuhe und Kreide für die Hände. In einer Nachmittagssendung hatte sie einmal einen beneidenswert gut gebauten Extremsportler gesehen, der nur mit ordentlichem Schuhwerk, einer Fahrradhose und einem Beutel voller Kreide die Eiger-Nordwand erklommen haben wollte. Das Unterfangen war nach etwa einem Fünftel der Wand mit einem Absturz geendet, der Sportler seitdem querschnittsgelähmt und impotent, worum es in der Sendung auch eigentlich gegangen war. Aber Sabine hatte sich voller Bewunderung die gesamte Ausstattung gemerkt. Schuhe fand sie sofort, Kreide bekam sie bei Eduscho, die gerade in ihrer Non-Food-Ecke Freeclimbing-Ausrüstung führten. Mit den neuen Schuhen und dem Kreidebeutel an der Hüfte fühlte sie sich frei, es ihrem ewig nörgeligen Dauerverlobtem mal so richtig zu zeigen.
Marlies Uhlworm stellte die Gießkanne ab und warf einen leidenden Blick in Richtung Küche. Sie rief sich den Duft frischgebackener Croissants mit Honig in Erinnerung, die neben dem Frühstückstisch einmal eine sehr bedeutende Rolle in ihrem Liebesleben gespielt hatte, eine krümelige und leicht klebrige Sauerei, die sich aber ausgezahlt hatte. Jedenfalls konnte sie sich gut an den multiplen Orgasmus erinnern, den sie mit einer Plastiktüte über dem Kopf an ihrem neunundsechzigsten Geburtstag erlebt hatte. Nur der Kaffee war etwas heiß gewesen.
Mit neugewonnenem Kennerblick studierte Sabine Hennenlotter die Fassaden in der Umgebung. Ihre Handflächen waren angenehm trocken, sie staubten nur etwas. Die vorhin noch sehr inspirierende und attraktive Fassade neben dem Modegeschäft erschien ihr nun aber nicht mehr ausreichend. Zu wenig Platz, dachte sie, aber gewiss nicht, weil ihre Hüften zuletzt in die Breite gegangen waren, das empfand nur ihr Dauerverlobter so. Somit sah es allerdings auch trübe aus: Überall nur Schaufenster, die nicht genügend Halt boten (außer mit Saugnäpfen vielleicht). Sie überlegte, ob sie zur Universität fahren sollte, das war nicht weit, aber dann fiel ihr ein, dass die Fugen dort ebenso wie an der Residenz nur aufgemalt waren. Wo sollte man noch ordentliche Fassaden finden, in so einer Stadt? Sabine Hennenlotter schlenderte langsam den Bürgersteig hinab.
Unterdessen sah sich Marlies Uhlworm mit der Gegenwart konfrontiert. Da sie Witwe war, war es zwecklos, sich in einem der üblichen Swingerclubs umzusehen, die waren nur für Paare und ihre Mitgliedschaft war sicher auch schon längst abgelaufen. So vieles hatte sie mit dem Tod ihres Mannes aufgeben müssen. Sie nahm die Gießkanne auf, seufzte dabei, und fuhr fort, die Blumen zu gießen.
Na endlich, dachte Sabine Hennenlotter, drei Boutiquen weiter, eine Fassade, die sich erklimmen ließ. Das einzige Haus weit und breit, das noch nicht zu Tode saniert und mit einem Geschäft versehen war. Ganz hübsche Balkone gab es auch, oben einen Giebel mit einem Sims, von dem aus sie gewiss den schönen Ausblick genießen konnte. Sie klappte in die Hände (für ein Klatschen waren sie zu trocken), wartete, bis sich die Kreidewolke gelegt hatte, und schob ihre Finger in eine Ritze gerade über Kopfhöhe.
Marlies Uhlworm hatte die letzte Blume in der Wohnung gegossen, blieb nur noch der Balkon. Auf dem hatte sie auch schöne Zeiten erlebt. Dabei war es immer etwas umständlich gewesen, den Frühstückstisch rauszutragen.
Drei Stockwerke weiter unten stellte sich Sabine Hennenlotter als wahres Naturtalent heraus. Das jahrelange Tragen von Einkaufstüten mit schwerem Inhalt und dünnen Tragelaschen hatte ihre Finger gestählt, und die morgendliche Aerobic trug ihres dazu bei. Sie arbeitete ihre manikürten Fingerspitzen in die Fugen vor, fand Halt, schob ihre Füße nach – und in Nullkommanichts hatte sie zwei Stockwerke geschafft. Ohne zu schauen (ihre Höhenangst hatte diese neue Profession leider nicht beseitigen können) wusste sie, dass sich unten eine kleine Zuschauermenge eingefunden hatte. Stehen geblieben war auch der Nacktjogger, der jeden Tag um die gleiche Zeit seine Runden durch Schwabing zog, ohne jedoch dabei die ihm gebührende Beachtung zu finden. „Aber klettert einmal eine übergewichtige Hausfrau in geschmacklosen Leggings eine Wand rauf“, dachte er ärgerlich, „reißen alle gleich die Augen auf.“ Als in die Jahre gekommener Kommunarde fühlte er sich von der Zeit betrogen. Jedenfalls machte Sabine Hennenlotter ihre Sache so lange gut, bis es ihr nass ins Gesicht fiel. Bei Regen zu klettern machte keinen Spaß, sie schaute nach oben und sah blauen Himmel. Die Regentropfen waren unerklärlich, aber vorhanden; also kletterte sie zur Seite und unter einen Balkon, bis das Wetter sich beruhigt hatte.
Marlies Uhlworm ahnte nicht, welche Verwirrung sie gerade verursachte, als sie die Gießkanne großzügig über ihren Balkonkästen ausgoss. Jedes Jahr hatte ihr Ehemann, ein pensionierter Beamter, immer zur gleichen Zeit sorgfältig gepflanzt, große Geranien und Kletterpflanzen, damit niemand den Balkon einsehen konnte. Wenigstens diese Tradition hatte seine Frau fortgesetzt. Marlies leerte die Gießkanne und stellte sie ab (unter ihr stellte Sabine befriedigt fest, dass es weitergehen konnte) und übersah dabei den kleinen Topf mit Kresse, den ihre jüngste Enkelin im Kindergarten gebastelt hatte, ein Clownsgesicht mit grünen Haaren. Sie schlug mit dem Fuß dagegen, warf ihn dabei um und dann versuchte sie, nicht auch noch draufzutreten, um das schöne Geschenk nicht zu zerstören. Dabei verlor sie das Gleichgewicht.
Gerade als Sabine sich unter dem Balkon hervorarbeiten wollte, hörte sie einen leisen Aufschrei über sich (unter ihr hätte sie allerdings für wahrscheinlicher gehalten), und dann sah sie etwas schweres, graues an ihr vorüberfliegen. Sie griff beherzt zu
Zu diesem Zeitpunkt stellte der Nacktjogger fest, dass ihn das Schicksal erneut um die Gelegenheit gebracht hatte, eine Sensation zu bieten: Direkt über ihm baumelte Marlies Uhlworm – von der nur die weiße Spitzenunterwäsche, der Saum ihres Hauskleides und die Latschen zu sehen waren – am ausgestreckten Arm von Sabine Hennenlotter, die sich wiederum, nachdem ihre Füße abgerutscht waren, an die schmiedeeiserne Balustrade klammerte.
Marlies Uhlworm schwang langsam hin und her, trotz des Schrecks hatte sie nicht das Bewusstsein verloren. „Großer Gott“, ächzte sie, höchst erstaunt darüber, einen nackten Mann in weißen Joggingschuhen unter sich zu erblicken. So etwas hätte es zu ihrer Zeit nicht gegeben. Offenbar war es doch gut, dass sie kaum aus dem Haus ging.
Sabine Hennenlotter bemerkte weiter oben zwei Dinge gleichzeitig: Erstens, alte Leute können schwerer sein als Einkaufstüten, und zweitens, dass ihre Arme langsam aus den Gelenken rutschten. „Um Gottes Willen, ziehen Sie sich doch etwas an“, hörte sie unter sich, dann löste sich ihr Griff und Marlies Uhlworm gab der Tiefe nach.
„Na endmph“ entfuhr es dem Nacktjogger und Kommunarden, der damals, als die anderen nackt vor einer Wand posierend berühmt geworden waren, nur mal eben auf dem Klo gewesen war; dann drückten ihn siebzig Kilogramm Lebendgewicht auf einen Schlag nieder.
Mit der freigewordenen Hand ergriff Sabine Hennenlotter die Balustrade und obwohl ihre Arme taub waren, zog sie sich mit letzter Kraft auf den Balkon, wobei sie einen Kressetopf mit Clownsgesicht unter sich zerdrückte.
Wie dem Kressetopf erging es auch dem Nacktjogger. Seine heldenhafte Tat hätte es dann auch beinahe in die Zeitungen geschafft, wäre sie nicht kurz vor Redaktionsschluss von dem noch spektakuläreren Absturz eines Politikers von der Titelseite verdrängt worden.
Marlies Uhlworm starb auf dem Weg ins Krankenhaus, etwas über Frühstückstische murmelnd. Der Notarzt schloss ihre Augen über einem erwartungsvollen Lächeln.
Nachdem Sabine Hennenlotters Muskelkater nachgelassen hatte, trennte sie sich von ihrem Dauerverlobten. Da schöne Vierzimmerwohnungen schwer zu bekommen sind, überzeugte sie Marlies Uhlworms Söhne davon, sie dort zu einer großzügig geringen Miete wohnen zu lassen. Schließlich hatte sie alles daran gesetzt, das Leben ihrer Mutter zu retten.
Sabine Hennenlotter hielt an der Fassadenkletterei weitgehend fest. Ihr jüngster Plan bestand darin, die Eiger-Nordwand ohne Ausrüstung aber mit einem querschnittsgelähmten Extremsportler zu besteigen.
axel niebergall wurde in der lüneburger heide geboren und studierte in münchen alte geschichte. er schreibt seit seinem zwölften lebensjahr und arbeitet neben der promotion an seinem dritten debütroman. älter werden entstand in der schreibwerkstatt manuskriptum und wurde 2003 in meine schöne hässliche geliebte: gedichte und geschichten aus der hohenzollernstrasse veröffentlicht.
nanunana | 26. März, 15:48 | topic: poesiealbum