H.
Irgendwann hat er meine Hand genommen. Die Finger vorsichtig zur Faust gebogen und mir gesagt, ich solle zudrücken, so fest ich nur kann. Um zu zeigen, welcher Kraft es bedurft hatte, die verkrampften Hände der Toten zu öffnen. In der Hoffnung, darin ein Stückchen Brot zu finden gegen den Hunger seit Wochen.
H. ist in München geboren und wuchs mit seinen fünf Geschwistern in Giesing auf, wo der Vater seit den dreißiger Jahren ein Fuhrunternehmen betrieb. Am frühen Morgen des 8. März 1943 wurde die Familie von der Gestapo verhaftet und wenige Tage später deportiert. H. ist Sinto, er überlebte Auschwitz, Ravensbrück, Mauthausen, Bergen-Belsen.
50 Jahre lang konnte er nicht über die Greuel sprechen, die ihm angetan wurden und über das, was er als Neunjähriger mitansehen musste. Nicht mit den Geschwistern, den Eltern, der eigenen Famile. Vor zehn Jahren hat er damit bgonnen. Anfangs zögerlich, immer in der Angst, wieder diffamiert und ausgegrenzt zu werden. Ihm selbst hilft das Sprechen nicht. Jedes öffentliche Auftreten ruft andere, verschüttete Erinnerungen wach und lässt ihn in den Nächten keine Ruhe finden. Was ihn qält, ist die Frage, auf die es keine Antwort gibt - nach dem Sinn dessen, was geschehen ist.
H. erzählt atemlos. Manchmal lassen ihn die Bilder und Erinnerungen, die sich aufdrängen, mitten im Satz verstummen. Später zeigt er mir eine Fotografie. Sie stammt aus einem Buch über Josef Mengele. Vier Kinder sind darauf abgebildet. Jedes nennt er bei seinem Namen, erzählt von ihrem Leben und der Qual, die sie erleiden mussten, bevor sie in den Tod getrieben wurden. Und dann erzählt er von dem Tag, an dem er und sein Bruder geholt wurden. Der Tag, vor dem er sich in all dem Grauen am meisten gefürchtet hatte. Obwohl er weiss, dass er auch diese Nacht nicht wird schlafen können, schont er sich nicht. Die Torturen, die er beschreibt, sind unvorstellbar. Als man die Buben schließlich auf den Lastwagen treibt und er seinen blutüberströmten Bruder in Armen hält, glauben sie sich auf dem sicheren Weg in den Tod.
H. und seine Familie haben überlebt, die meisten seiner Verwandten und der 1943 verhafteten 141 Münchner Sinti und Roma wurden ermordet. "Ich wusste, es wird schlimm", beschreibt er seine Erinnerung an die Ankunft in Auschwitz. Im April 1945 wurden er, seine Geschwister und die Mutter in Bergen-Belsen befreit. Die zurückliegenden Wochen hatte der Zehnjährige seiner Familie das Überleben mit dem gerettet, was er in den Händen der Ermordeten fand. Oft lag ein kleiner Zettel darin, mit einem letzten Gruß. Als die Engländer das Lager befreiten, war dies seit langem der erste Tag, an dem es für die Inhaftierten Brot hätte geben sollen. Es war vergiftet.
Zum Abschied nimmt mich H. in den Arm, drückt mich an sich und sagt, dass er für uns da ist, wenn wir ihn brauchen. In diesem Augenblick hätte ich weinen mögen. Ich konnte es nicht.
H. ist in München geboren und wuchs mit seinen fünf Geschwistern in Giesing auf, wo der Vater seit den dreißiger Jahren ein Fuhrunternehmen betrieb. Am frühen Morgen des 8. März 1943 wurde die Familie von der Gestapo verhaftet und wenige Tage später deportiert. H. ist Sinto, er überlebte Auschwitz, Ravensbrück, Mauthausen, Bergen-Belsen.
50 Jahre lang konnte er nicht über die Greuel sprechen, die ihm angetan wurden und über das, was er als Neunjähriger mitansehen musste. Nicht mit den Geschwistern, den Eltern, der eigenen Famile. Vor zehn Jahren hat er damit bgonnen. Anfangs zögerlich, immer in der Angst, wieder diffamiert und ausgegrenzt zu werden. Ihm selbst hilft das Sprechen nicht. Jedes öffentliche Auftreten ruft andere, verschüttete Erinnerungen wach und lässt ihn in den Nächten keine Ruhe finden. Was ihn qält, ist die Frage, auf die es keine Antwort gibt - nach dem Sinn dessen, was geschehen ist.
H. erzählt atemlos. Manchmal lassen ihn die Bilder und Erinnerungen, die sich aufdrängen, mitten im Satz verstummen. Später zeigt er mir eine Fotografie. Sie stammt aus einem Buch über Josef Mengele. Vier Kinder sind darauf abgebildet. Jedes nennt er bei seinem Namen, erzählt von ihrem Leben und der Qual, die sie erleiden mussten, bevor sie in den Tod getrieben wurden. Und dann erzählt er von dem Tag, an dem er und sein Bruder geholt wurden. Der Tag, vor dem er sich in all dem Grauen am meisten gefürchtet hatte. Obwohl er weiss, dass er auch diese Nacht nicht wird schlafen können, schont er sich nicht. Die Torturen, die er beschreibt, sind unvorstellbar. Als man die Buben schließlich auf den Lastwagen treibt und er seinen blutüberströmten Bruder in Armen hält, glauben sie sich auf dem sicheren Weg in den Tod.
H. und seine Familie haben überlebt, die meisten seiner Verwandten und der 1943 verhafteten 141 Münchner Sinti und Roma wurden ermordet. "Ich wusste, es wird schlimm", beschreibt er seine Erinnerung an die Ankunft in Auschwitz. Im April 1945 wurden er, seine Geschwister und die Mutter in Bergen-Belsen befreit. Die zurückliegenden Wochen hatte der Zehnjährige seiner Familie das Überleben mit dem gerettet, was er in den Händen der Ermordeten fand. Oft lag ein kleiner Zettel darin, mit einem letzten Gruß. Als die Engländer das Lager befreiten, war dies seit langem der erste Tag, an dem es für die Inhaftierten Brot hätte geben sollen. Es war vergiftet.
Zum Abschied nimmt mich H. in den Arm, drückt mich an sich und sagt, dass er für uns da ist, wenn wir ihn brauchen. In diesem Augenblick hätte ich weinen mögen. Ich konnte es nicht.